Freiburg spricht mit Fleckenstein

Klare Worte zu Osteuropa, der NATO und der Zukunft der EU im Europaparlament: Die Osterweiterung der EU war in ihrer damaligen Form ein „Riesenfehler“, sagt der außenpolitische Sprecher der S&D-Fraktion im EU-Parlament, Knut Fleckenstein. Diese und weitere klare Worte fand der Abgeordnete aus Hamburg im Gespräch mit sechzehn Freiburger Studierenden, die am 30. Mai eine Straßburg-Exkursion unternahmen. Der Tagesausflug hielt neben dem Gespräch auch eine Stadtführung und natürlich reichlich Flammkuchen bereit.

Am späten Nachmittag begrüßten die Teilnehmenden MdEP Knut Fleckenstein zum Gespräch über die Außenpolitik der EU. In einer kurzen halben Stunde konnte die Gruppe ihm wertvolle Fragen stellen und bekam klare Antworten. Das Gespräch drehte sich um die Themen Osteuropa, die Ukraine und Russland, die NATO sowie die Erweiterbarkeit und den zukünftigen Pfad der EU.

 

Bezüglich östlicher EU-Länder und auch östlicher Nachbarländer der EU vertritt Fleckenstein eher kritische Ansichten. Die Perspektive beispielsweise, dass Polen und Ungarn den Atomdeal mit dem Iran anzweifeln könnten, sah Fleckenstein äußerst kritisch. Den Grundgedanken der EU der gegenseitigen Solidarität und des steten Zusammenwachsens hätten diese Länder hinter sich gelassen. In dem oben genannten Fall würde er am liebsten keine vornehme Zurückhaltung Polen und Ungarn gegenüber mehr praktizieren und eine Klausel zur Verfügung haben, die den Ausschluss der Länder aus der EU möglich macht. Mit dieser Ansicht sei er sehr alleine, meint er.

 

Es sei ein „Riesenfehler“ gewesen, alle östlichen Länder auf einmal in die EU aufzunehmen, ohne vorher die Spielregeln zu ändern und Ernst mit den Kopenhagener Kriterien zu machen. Fleckenstein sehe zwar, dass der Westbalkan eines Tages Teil der EU sein könnte, immerhin liege er mitten in Europa – doch erst nach einem gründlichen Reformprozess. Er verstehe, dass es für die Länder dort frustrierend sei, nicht wie damals Rumänien, Bulgarien und andere einfach „reingewunken“ zu werden. Doch dieser Fehler dürfe nicht noch einmal begangen werden. Die Türkei sehe er niemals als Teil der EU – mit Erdogan an der Spitze schon gar nicht. Doch auch der Schock, den Erdogan mit seiner aktuellen Politik ausgelöst habe, werde so schnell nicht zugunsten einer Aufnahme in die EU verwunden werden können.

 

Je dichter die EU werde, umso limitierter sei auch ihr Aufnahmevermögen. Die Nachbarschaftspolitik solle nicht als eine Möglichkeit vergessen werden, um einen Ring gut regierter Freunde um die EU zu schaffen, ohne potentiell alle Nachbarn (ggf. nach Art. 49 EUV) aufzunehmen. Die EU kümmere sich mit viel Geld um ihre Nachbarn, allerdings zugegebenermaßen nicht sehr effizient. Man nehme die Ukraine.

 

Wie soll es weitergehen mit der Ukraine?

 

Trotz der Menge an Hilfsgeldern, die an die Ukraine geflossen seien, sei das Land weit mit den Reformen hinterher. Dabei helfe nicht, bemerkt Fleckenstein lakonisch, dass dazu noch „40.000 Russen in der Ukraine in Uniform Urlaub machen“.  Doch auch innerhalb des Parlaments stocke die produktive Zusammenarbeit bezüglich der Ukraine. Bei den östlichen Mitgliedsstaaten ende die Russland-Politik mit den Analysen zum Ukraine-Konflikt. Doch die seien kein wirksames politisches Mittel. Sanktionen könnten zum Regime-Change oder zum Nachgeben der Regierung führen, doch auch das löse perspektivisch keine Probleme. Das bei EU-Politikern hier beliebte „im Dialog bleiben“ helfe ebenso wenig, die echten Probleme anzugehen: Das Minsker Abkommen, das dürftige, aber einzig vorhandene politische Instrument, werde ebenfalls nicht intensiv umgesetzt. Man müsse für größere Effektivität jedoch deutlicher überlegen, was die Vorteile eines Befolgens des Abkommens für Russland und die Ukraine sein könnten. Laut Fleckenstein gibt es für Kiew keine, sondern nur Arbeit (den Aufbau einer föderalen Struktur und Amnestien für vormals „terroristische Feinde“) und für Russland höchstens den Vorteil der Beruhigung  der internationalen Gemeinschaft. Ihr wahres Interesse sei jedoch, zu verhindern, dass die Ukraine in die NATO eintrete.

 

Bezüglich der NATO erklärte Fleckenstein, dass die EU nicht autark neben der NATO stehen solle, sondern der europäische Pfeiler innerhalb der NATO gestärkt werden müsse, sodass „kein amerikanischer Präsident uns in die Suppe spucken kann“. Von der 2%-Forderung halte er nicht viel – man solle zunächst planen, was man brauche und dann schauen, wie man es finanziere. Dies sei besser als Geld zu sammeln und dann zu überlegen, wofür man es gerne ausgeben würde. Es sei völlig klar, dass Trump mit seiner Außenpolitik keine Freundschaft mit der EU führe. Doch die EU sei weit davon entfernt in einem Handelskrieg effektive Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Auch die Iran-Sanktionen könne die EU alleine wohl kaum glaubwürdig durchführen.

 

Glaubwürdigkeit sei auch innerhalb der EU ein großes Problem, merkt ein Teilnehmer an. Fleckenstein meint, die Menschen sähen die Uneinigkeit der EU, auch bezüglich der Außenpolitik, als Gefahr für ihre Zukunftsabsicherung und verlören so das Vertrauen. Zudem zweifelten viele an der Umsetzung sozialer Gerechtigkeit durch die EU angesichts der Vorteile für Unternehmen und die Wirtschaft in der EU. Angesichts der wahrgenommenen Dysfunktionalität der EU plädierten die einen für eine Rücknahme aller europäischen Verabredungen, sagt Fleckenstein. Andere, wie er selbst, sähen die Lösung für die Zukunft der EU darin, die bestehenden Instrumente und Insitutionen nutzen um mehr Verabredungen gemeinsam zu treffen und demokratische Kontrolle besser zu gestalten. Dies dürfte Vertrauen schaffen, mithilfe derer dann einst die EU-Verträge geändert werden könnten – hin zu einer engeren Union.

 

Es müsse in der EU bei diesem Prozess nicht mit „zwei Geschwindigkeiten“ vorangehen, sondern mit „unterschiedlichen“. Mitgliedern dürfe nicht signalisiert werden, dass es nur einen Zug gibt, auf den jetzt noch rasch aufgesprungen werden kann. Unterschiedliche Geschwindigkeiten seien zudem schon seit jeher im Gange, z.B. mit Schengen, dem Euro… Auch wenn diese Lösung ganz und gar nicht ideal sei, sei sie besser als die EU ganz aufzugeben.

 

Auf der Besuchertribüne europäische Luft schnuppern

 

Neben dem Gespräch mit Herrn Fleckenstein hielt das Parlament noch viele weitere interessante Themen bereit: Schon auf der Besuchertribüne des Plenarsaals durften die Teilnehmenden eine außen- und sicherheitspolitisch relevante Debatte verfolgen. Am Nachmittag ging es um den teuren Verkauf sogenannter „Goldener Visa“ an vermögende, meist russische oder chinesische Investoren durch einzelne EU-Mitgliedsstaaten.

 

Fraktionsübergreifend wurde diese Praktik kritisiert. Die europäische Staatsbürgerschaft und damit zahlreiche Rechte sollten nicht käuflich sein, mahnte ein Abgeordneter der grünen Fraktion, vor allem nicht, da die verkaufenden Länder und damit die EU so doppelte Standards für Reiche und bspw. Geflüchtete schafften. Liberale, Sozialdemokraten und Christdemokraten bemängelten die Sicherheitsrisiken dieser Handelspraktik. Die Käufer von „Goldenen Visa“ seien häufig zwielichtige Gestalten, die mit „schmutzigem Geld“ ihre Visa bezahlten, was Korruption Vorschub leiste. Zudem wirke sich der Visaverkauf an vermögende Investoren massiv auf europäische Märkte aus, bspw. auf den Immobilienmarkt. Sie forderten neben Integritätskontrollen von potentiellen Käufern einen Bericht der Kommission und des Rates zur Problematik, denn der intransparente Handel mit der europäischen Staatsbürgerschaft entziehe sich der nationalen Zuständigkeit einzelner Länder.
Die Konservativen verteidigten dagegen die nationale Souveränität und betonten die Möglichkeit des Schutzes von Personen durch „Goldene Visa“ – allerdings solle beim Verkauf immer auf die Interessen der anderen EU-Länder geachtet werden.

 

Nach einem kleinen Intermezzo – einer Feueralarm-Übung, während derer der gesamte Plenarsaal für etwa 30 Minuten evakuiert wurde – fand sich die Gruppe mit einem Herrn vom Besucherdienst wieder. Er erklärte, welche Komplexität sich hinter der Arbeit des Europäischen Parlament versteckt und inwiefern es sich von herkömmlichen nationalen Parlamenten unterscheidet.
„Die S&D-Fraktion müsste eigentlich in 30 verschiedenen Rotttönen dargestellt werden“ – so viele einzelne Parteien hätten hier einen Sitz, was kleinen Parteien zumindest etwas Mitspracherecht verschaffe. Koalitionen kämen und müssten auf europäischer Ebene nicht zustande kommen – und infolgedessen „versauerten“ kleine Parteien nicht in der Opposition. Die Fraktionsdisziplin sei bei weitem nicht so stark wie in anderen Parlamenten. Aufgrund der alphabetischen Sitzordnung öffneten sich horizonte von Abgeordneten für die Perspektiven von Kollegen aus anderen Ländern. All dies führe u.a. dazu, dass alle Entscheidungen im Parlament Kompromisse seien – denn der Kompromiss sei, auch aufgrund der Komplexität der Strukturen, ein grundlegendes und absolut unverzichtbares Konzept im Europäischen Parlament. Graf von Lambsdorff, ein ehemaliger Abgeordneter, kontrastierte die Entscheidungsfindung in der BRD und der EU wie folgt: „In Berlin graben wir Gräben und in Brüssel bauen wir Brücken.“